Interview mit unserem Dolmetscher Nasir

Nasir

Stellen Sie sich bitte einmal vor… 

Ich bin Nasir Mahmoodzada, 26 Jahre alt und arbeite als Dolmetscher für MVI in der Klinik für psychische Gesundheit. 

Woher kommen Sie?

Ich komme aus Afghanistan. 

Wann sind Sie nach Lesbos gekommen?

Am 18. August 2016 bin ich hier angekommen. 

Sind Sie alleine hier?

Ja, ich bin alleine hier.

Wie haben Sie Ihre Anreise erlebt?

Es war eine schreckliche Tour. Ein langer Weg mit vielen Schwierigkeiten und Unfällen. Ich habe unterwegs Leichen gesehen und ich habe miterlebt, wie die türkische Polizei jemanden vor meinen Augen getötet hat.

Was haben Sie als erstes gedacht, als Sie die Situation hier gesehen haben?

Als ich im Boot saß und wir die Grenze überquerten, stellte ich mir vor, dass das Leben von nun an anders sein würde und dass die Situation endlich besser werden würde. Dann kam ich in das Camp hier und war völlig überrascht.  Die erste Woche verbrachte ich mit der Suche nach einem Schlafplatz, da nichts für uns Neuankommende vorbereitet oder verfügbar war. Nachts musste ich mir einen Platz auf der Straße suchen und meine Tasche unter den Kopf klemmen, um zu schlafen. Damals, 2016, bekam man ein offizielles Papier von der Polizei und dann war man im Lager auf sich allein gestellt – auch um zum Beispiel einen Schlafplatz zu finden. Eurorelief war damals vor Ort und ihre Mitarbeiter verteilten Schlafsäcke und Zelte. Da aber die Nachfrage sehr hoch war (jeden Tag kamen unzählige Menschen an), gab es nicht genug Platz oder Ausrüstung für alle. Nachdem ich eine Woche lang auf der Straße geschlafen hatte, ging ich zu Eurorelief, um mich zu beschweren und brüllte sie an, mir eine Schlafmöglichkeit zu geben. Schließlich bekam ich ein Zelt. Als es im Winter zu schneien begann, wurde es so eisig kalt, dass wir uns nachts mit Wodka warm hielten. Nach sechs Monaten bekam ich endlich meine offiziellen Papiere und konnte nach Mytilini fahren. 

Was haben Sie auf Lesbos als erstes gemacht?

Als ich das Moria-Lager nach 6 Monaten verließ, begann ich für „No Border Kitchen“ zu arbeiten.  Ich unterstütze als Übersetzer für Afghanen und Pakistaner. 

Wie hat sich die Situation hier verändert, seit Sie hier sind?

Als ich 2016 ankam, war die Situation eine vollkommen andere.

Die lokale Bevölkerung und die Menschen, die in den Flüchtlingslagern arbeiteten, waren freundlich zu den Flüchtlingen – nicht übermäßig freundlich, aber doch nett. Verglichen mit der aktuellen Situation im Jahr 2020 hat sich das komplett geändert. Ich kann das gut einschätzen, weil ich mich mit Einheimischen darüber unterhalten habe: Sie sind erschöpft von der Situation und es entwickelt sich ein gewisser Hass gegen die Geflüchteten. Es ist also jetzt eine völlig andere Situation. 

Auch die Situation im Lager selbst hat sich stark verändert. Im Jahr 2016, als ich dort lebte, waren es maximal 2.500 Menschen in Camp Moria. Im Jahr 2020 war es kein Camp mehr, sondern erreichte die Größe einer Stadt, mit etwa 20.000 Menschen. Eine grauenhafte Stadt. Es gab viel Gewalt, Schlägereien und Raubüberfälle. Und so ist es auch in dem neuen Lager. Ich kenne Leute, die wegen der nächtlichen Raubüberfälle mit ihren Handys und Geldbörsen in ihrer Unterwäsche schlafen müssen. Auch wenn es jetzt mehr Polizei gibt, ist das neue Lager nicht sicher genug.

Und seit dem großen Feuer am 9. September?

Das erste, das mir auffiel, als ich mit den Griechen sprach, war, dass die Einheimischen nach dem Brand das Gefühl hatten, dass die Geflüchteten Krieg in ihr Land gebracht haben. Die Einheimischen hier haben noch nie diese Art von Gewalt in ihrem Land gesehen, und das Feuer war ein Schock für sie. Außerdem haben sich die Lebensbedingungen für Geflüchtete völlig verändert. Wir dachten vorher, dass Moria ein schlechter Ort war, aber das neue Camp ist in einem noch schlechteren Zustand.  Es liegt direkt am Meer, wenn es regnet, ist es dort komplett überflutet. Ich hatte mich nach den Regenfällen mit einer Familie im Camp unterhalten. Der Vater erzählte mir, dass er während des Regens aufstehen und seine beiden Kinder in den Armen halten musste, bis der Regen aufhörte. Er hatte Angst vor Überschwemmungen und dass seine Kinder ertrinken würden, wenn sie auf dem Boden säßen. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Einige Menschen beschweren sich auch über die Kälte, da es weder Heizung noch Elektrizität gibt.

Was sollte sich hier ändern?

Die Verbesserung der Lebensbedingungen im Camp ist im Moment das Wichtigste. 

Wenn die griechische Regierung uns nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgt, helfen uns NGOs. Die Lebensbedingungen sind immer noch sehr schwierig: Es ist kalt, es gibt keinen Strom oder sonstige Einrichtungen. Das muss sich unbedingt ändern.

Bekommen Sie mit, wie Menschen außerhalb von Lesbos über diese Situation denken?

Alle Menschen, die ich kenne, wie z.B. Freiwillige oder Menschen, die sich für die Situation der Geflüchteten interessieren, zeigen Mitgefühl. Aber ich kann nicht für alle sprechen, weil ich nur ausgewählte Menschen hier kenne und bisher noch nicht an anderen Orten war.

Worauf sollte die Aufmerksamkeit der Menschen, der Medien jetzt liegen?

Auf der Situation innerhalb des Camps. Wenn man mit einer Drohne über das Lager fliegt, scheint der Anblick in Ordnung zu sein. Man muss die Situation von innen zeigen, um zu erkennen, wie erschreckend die Lebensbedingungen dort sind.

Was ist das Schönste, was Ihnen hier passiert ist?

Die Freundschaften und die Menschen, die ich getroffen habe, seit ich hier bin.

Wie sind Sie in Kontakt mit den Medical Volunteers International gekommen?

Ich wollte in Camp Moria für medizinische NGOs arbeiten. Jemand vermittelte mir den Kontakt zu Micol, einer der Koordinatorinnen von MVI. Sie interviewte mich und nahm mich dann ins Team auf.

Was halten Sie von ihrer Arbeit?

MVI unterstützt die Menschen hier, indem sie medizinische Hilfe leisten. Die Medical Volunteers begegnen den Menschen hier mit Aufmerksamkeit und auf Augenhöhe, das wird hier wirklich geschätzt.

Was möchten Sie unseren LeserInnen mit auf den Weg geben?

Wenn es sich bei den Lesern um ÄrztInnen und medizinisches Fachpersonal handelt, würde ich sagen, dass es mehr SpezialistInnen und fachgerechte Untersuchungsgeräte benötigt. PatientInnen, die hier untersucht werden, werden häufig für weiterführende Diagnose zu einem Spezialisten geschickt. Aber die Menschen hier können sich das nicht leisten. Außerdem ist es derzeit auch nicht einfach das Camp zu verlassen. Daher wäre meine Bitte es zu ermöglichen, dass auch zunehmend Diagnosen von SpezialistInnen im Camp durchgeführt werden können und es keine kostenpflichtigen Untersuchungen in der Stadt benötigt.

Vielen Dank für das Interview!

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