“Die Ohnmacht bei Eltern ist groß” – “Ich erklärte ihnen meist, dass ihre Kinder normal sind, aber die Umstände nicht”
Alexandra Osterhues ist Assistenzärztin für Kinder – und Jugendpsychiatrie – und psychotherapie in Hannover. Ihr erster Einsatz mit MVI führte sie nach Lesbos in ein Projekt, das Kindern und Eltern in dieser schwierigen Zeit Halt und psychologische Betreuung bieten soll.
Wie bist du auf MVI aufmerksam geworden?
Ich habe mir schon lange sehr intensiv Gedanken zur Lage Geflüchteter gemacht – über Familien und Kinder, die auf der Flucht sind. Und auch darüber, wie ich helfen kann. Klar, kann man spenden, was ebenso wichtig ist. Das habe ich auch getan. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich als Ärztin auch gerne aktiv unterstützen möchte. Deshalb habe ich mich etwas umgeschaut und bin dann online auf MVI aufmerksam geworden.
Wie war dein Gefühl, bevor du in deinen ersten Einsatz nach Lesbos gegangen bist?
Ich habe über die Lage vor Ort gelesen, habe Videos gesehen. Aber ich hatte keine konkrete Vorstellung davon, wie es sein würde, wirklich da zu sein. Ich war vor meiner Ankunft sehr angespannt und hatte viele Fragen, die mich beschäftigt haben: Werde ich dem gerecht? Habe ich genug Erfahrung? Bekomme ich das hin? Ich war schon oft im Ausland aber Lesbos war etwas anderes.
Und wie war es dann, als du ankamst?
Es war absolut paradox. Auf der einen Seite gab es diese schönen Strände, Bars, Sonnenschein – eine absolute Urlaubsoase. Auf der anderen Seite ist da dieses Camp in dem Tausende Menschen leben, die nichts haben. Zum Teil leben Alleinreisende mit mehr als 100 Menschen in einem Zelt. Das muss man sich erstmal vorstellen, dass solche Dinge in der EU passieren. Der Ort ist sehr authentisch, man sieht das Schöne und das Schlimmste auf engstem Raum. Ich war traurig, enttäuscht und auch wütend darüber, dass wir das einfach so geschehen lassen. Trotzdem begleitete mich anfangs auch eine Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ich dachte: Wow, hier bin ich nun und kann nichts machen.
Konntest du wirklich nichts machen?
Doch, ich denke schon. Das anfängliche Gefühl ließ etwa nach einer Woche deutlich nach. Ich hatte für mich irgendwie akzeptiert, dass das nun mal die Umstände sind und ich im Kleinen da helfen muss, wo ich kann.
Worum geht es in dem Projekt, in dem du mitgearbeitet hast?
Wir haben Familien, Eltern und Kinder in Gruppen, aber auch in Einzelgesprächen psychologisch betreut. Die Geflüchteten sind oft frustriert und hilflos, haben Traumatisches erlebt – und tun das noch immer. Viele Kinder sind deshalb aggressiv, haben Albträume, haben aufgehört zu sprechen, verletzen sich selbst, nässen ins Bett. Das sind alles Symptome, die auftreten, weil Kinder unter diesen unwürdigen Bedingungen versuchen müssen zu wachsen. Ich habe sehr verzweifelte Eltern kennengelernt, die zusehen, wie ihre Kinder jeden Tag kränker werden, die nicht wissen, was sie tun können.
Was hast du den Eltern dann geraten?
Die Ohnmacht bei den Eltern ist natürlich groß, sie fühlen sich alleingelassen. Viele wollen einfach nur erzählen und sagen, ihnen habe noch nie jemand so lange zugehört. Das ist dann schon sehr berührend. Ich erklärte ihnen meist, dass ihre Kinder normal sind, aber die Umstände nicht – die sind so krass und so schlimm für Kinder, dass sie wenig Chancen auf eine gesunde Psyche haben. Da hilft es dann Rituale zu etablieren, Momente der Selbstbestimmung zu schaffen, feste Mahlzeiten zusammen einzunehmen, mit den Kindern zu spielen. Das kommt oft zu kurz. Aber Phantasie, Singen, Spielen, Bewegung, über Emotionen zu sprechen – das alles ist essentiell für die Entwicklung von Kindern und schafft kleine Momente von Normalität.
Wie waren die zwischenmenschlichen Begegnungen, die du erfahren hast?
Sehr bewegend. Jede Familie, jede*r Geflüchtete hat seine eigene Geschichte, sein eigenes Schicksal. MVI arbeitet ja ausschließlich mit Übersetzer*innen aus der Community zusammen, also selbst Geflüchteten. Mit ihnen verbringt man in den Projekten dann viel Zeit. Ich habe eine Frau kennengelernt, die viermal versucht hat, aus der Türkei nach Europa zu kommen. Sie hat mir von ihrer Flucht übers Meer erzählt. Ihnen wurde der Motor geklaut. Zwei Babys haben die Überfahrt nicht geschafft. Seit über drei Jahren lebt sie nun mit ihrer Familie im Camp auf Lesbos. Ihr Mann war in Afghanistan beim Militär. Sie hatten wahnsinnige Angst vor den Taliban. Dennoch wurde ihr Asylantrag bereits vier Mal abgelehnt. Doch trotz all dieser Erfahrungen sagte sie mir: Ich bin jeden Tag froh, es bis hierhin geschafft zu haben und zu wissen, dass meine Kinder morgen noch leben.
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