“Mir ist es wichtig, den individuellen Menschen zu sehen” // “Was wir machen ist keine Wohltätigkeit. Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht” “Ich hatte vorher mehr Vertrauen in die EU
Nicolai Kissling beendete vor kurzem sein Medizinstudium. Nach seinem Examen entschied der Hamburger, die freie Zeit zu nutzen, um in Thessaloniki einen Monat lang ehrenamtlich zu arbeiten. Er weiß, dass er mit seinem Einsatz nicht alles verändern kann, aber mit seiner medizinischen Ausbildung will er gerne da mit anpacken, wo gerade Hilfe benötigt wird.
Wie kamst du zu der Entscheidung, in Thessaloniki zu helfen?
Ich habe mir den Ort nicht aktiv ausgesucht. Ich saß mit einer Nachbarin auf dem Balkon, die bei MVI mithilft und sie hat mir von der Organisation erzählt. Ich fand Freiwilligenarbeit schon immer wichtig: Die eigenen Fähigkeiten zu teilen, mit denen, die sonst keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. 2018 habe ich schon einmal in einem Krankenhaus in Tansania gearbeitet, als Teil der ärztlichen Ausbildung. Nun hatte ich frei und dachte mir, dass ich wieder einen Beitrag als Freiwilliger leisten kann und möchte.
Du bist erst ein paar Wochen in Thessaloniki im Einsatz. Welches Gefühl begleitet dich abends, wenn du ins Bett gehst?
Unverständnis. Unverständnis und auch Wut darüber, wie unwürdig Menschen behandelt werden und unter welchen Bedingungen sie leben müssen. Es ist eine sehr vulnerable Situation für sie. Ich lerne hier junge, talentierte Menschen kennen, die einfach nur in ihrem Leben durchstarten wollen und hier in der Asylbürokratie gefangen sind. Die teils traumatische Erlebnisse auf ihrer Flucht hierher erlebt haben, Die auch hier ohne Obdach leben und für die Erfüllung ihrer grundlegendsten Menschenrechte wie Essen und medizinischer Versorgung auf NGOs angewiesen sind. Menschen, die mit Verletzungen von der Grenze zurückkehren, weil sie bei illegalen “Push Backs” Gewalt erfahren haben. Auch alte Menschen und Familien mit Kindern, Menschen unterschiedlichsten Hintergrundes.
Es ist schlimm zu sehen, wie Menschen mit eigentlich gut behandelbaren Erkrankungen keine Hilfe erfahren, da sie keinen Zugang dazu haben. Der Gedanke: ‘In Deutschland hätte ich jetzt dieses oder jenes angeordnet’ ist sehr frustrierend.
Was hast du erwartet, bevor du hierher kamst?
Ich hatte keine konkrete Vorstellung. Doch ich hatte definitiv mehr Vertrauen in die EU als das, was ich jetzt hier erlebe. Mir erschließt sich überhaupt nicht, wie EU-Recht gebrochen werden kann unter dem Vorwand die EU zu “schützen”. Dabei verraten wir doch genau das wofür wir stehen: Respekt vor den Rechten eines jeden Menschen. Trotzdem sind illegale Push Backs an der Tagesordnung.
Wie erlebst du die Situation für Geflüchtete in Thessaloniki derzeit?
Ursprünglich war Thessaloniki ein sicherer Ort für Menschen auf der Durchreise, so erzählten es mir Geflüchtete, Freiwillige und Koordinator*innen, die schon länger hier sind. Nach dem Überqueren der türkischen Grenze war es für viele der erse Halt, bevor sie weiterzogen und versuchten weiter nach Westen zu kommen. Die, die können, laufen nun an Thessaloniki vorbei zur nächsten Grenze. Nur noch die, die Halt machen müssen, weil sie medizinische Hilfe brauchen, kommen hierher. Denn Übergriffe rechtsextremen Gruppen und die Polizeigewalt nimmt zu. Das Leben auf der Straße ist nicht mehr sicher.
Was sind die medizinischen Probleme, mit denen die Menschn zu euch kommen?
Früher waren es größtenteils Wunden an den Füßen vom langen Laufen. Das ist im Verhältnis weniger geworden. Aber noch immer immer kommen Menschen mit offenen Füßen zu uns, die zehn oder 15 Tage lang zu Fuß unterwegs waren.Zuhause würde man dem Patienten sagen: Nimm warme Bäder und ruh dich aus. Hier bieten wir Wundversorgung an und versuchen Infektionen zu behandeln solange die Patienten da sind, denn die meisten gehen so schnell es geht weiter. Zu den akuten Beschwerden gibt es mittlerweile viele Menschen, die schon länger in Thessaloniki gestrandet sind und chronische Beschwerden haben. Für diese Patienten mit teils komplexen chronischen Erkrankungen sind wir oft die einzige medizinische Versorgung und agieren wie eine Hausarztpraxis. Das was wir können, behandeln wir selbst. Aber wir schreiben auch Überweisungen für Krankenhäuser und begleiten die Patienten, quasi als ihre “Anwälte”. Denn oft werden sie in dem ohnehin schon überlasteten griechischen Gesundheitssystem abgewiesen. Für undokumentierte Geflüchtete ist es am schwierigsten. Sie haben offiziell keinen Anspruch auf medizinische Versorgung.
Welchen Beitrag möchtest du mit deiner Arbeit leisten?
Natürlich bin ich hier, um medizinische Hilfe zu leisten. Doch darüber hinaus will ich den Menschen auf Augenhöhe begegnen, ihnen Zuhören, mir Zeit zu nehmen. Woran ich hier oft denke, ist das Wort “Würde”. Ich finde es wichtig, das die Patient*innen wissen, dass sie als Individuum gesehen werden, nicht als Geflüchtete, nicht als Nummer, nicht als Angehöriger einer Ethnie. Als Mensch. Was wir hier machen ist keine Wohltätigkeit gegenüber Bedürftigen. Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. Wir helfen hier einfach nur Menschen dabei, zu bekommen, was ihnen schon immer zusteht.
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